Skandalöse Zustände in der Fleischindustrie auf dem Prüfstand

Gabi Bieberstein

Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) prangert seit 30 Jahren die untragbaren Zustände in der Fleischindustrie an.

Interview mit Thorsten Kleile, Gewerkschaftssekretär der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Region OWL.

Interview mit Thorsten Kleile, NGG

Kampfansage an die Fleischindustrie“ titelte die NW am 21. Mai 2020, nachdem ein Eckpunktepapier im Bundeskabinett beschlossen worden war, das ein Verbot von Werkverträgen, strengere Kontrollen und hohe Bußgelder zum 1. Januar 2021 vorsieht.

Nachdem jahrelang Politiker*innen und andere Verantwortliche weggeschaut hatten, wenn es um schlechte Bezahlung, gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen und skandalöse Unterbringung ging, will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nun endlich aufräumen.

Die Zustände in der Fleischverarbeitungsbranche sind seit langem bekannt. Die Gewerkschaft NGG prangert seit 30 Jahren diese untragbaren Zustände an.

Hans-Dietmar Hölscher, Sprecher des AK „Soziales und Gewerkschaft“, DIE LINKE Bielefeld, im Gespräch mit Thorsten Kleile, Gewerkschaftssekretär der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Region OWL.

Dietmar Hölscher: Kollege Thorsten, die Corona-Pandemie hat für Millionen Menschen ans Tageslicht gebracht, was in der Fleischverarbeitungsbranche seit Jahren schief läuft.

Wie sehen die Forderungen aus, die ihr als NGG an das neue Gesetz stellt?

Was fordert ihr schon seit vielen Jahren?

Thorsten Kleile: Das vom Kabinett beschlossene Papier setzt unsere Forderungen um. Daher ist das Vorhaben aus aktueller Sicht nicht zu beanstanden. Dies muss jetzt in ein wasserdichtes Gesetz münden. Die NGG fordert seit 20 Jahren die Abschaffung der Zustände in der Branche. Betriebe, die wegen der Vergabe der Haupttätigkeiten keine eigene Identität mehr aufweisen, darf es nicht geben. Um was für ein Betrieb handelt es sich bitte, der kaum eigene Beschäftigte hat? Das System der Werkverträge hat dazu geführt, dass Menschen auf engstem Raum bei sehr schlechten Wohnverhältnissen und schlechter Entlohnung zusammenleben. Das ist menschen-unwürdig.

Dietmar Hölscher: „Aus dem Kabinettsbeschluss muss ein Gesetz werden.“ fordert der stellv. Vorsitzende der NGG, Freddy Adjan. Ihr wollt eine Umsetzung Eins zu Eins im Gesetzgebungsverfahren. Der Verband der Fleischwirtschaft (VDF) befürchtet wirtschaftliche Schäden, gar eine Abwanderung der Fleischproduktion ins Ausland. Einer der Großen der Branche, Clemens Tönnies, möchte die Werkverträge um jeden Preis retten und ist sogar zu Zugeständnissen bereit.

Wie werdet ihr auf diese „Unternehmer-Vorschläge“ und die anlaufende Kampagne gegen eure Gewerkschaft reagieren?

Thorsten Kleile: Wir glauben, wäre es so einfach die Produktion ins Ausland zu verlagern, wäre dies sicher schon geschehen. Dagegen spricht schlichtweg, dass die Unternehmen Deutschland als wichtigen Standort in Mitteleuropa weiter nutzen wollen. Weiter sind die angrenzenden Schlachtbranchen unter Druck, da Deutschland DAS Dumpinglohnland in der Branche ist. Dies führt natürlich zu Verzerrungen. Außerdem stehen hier die Tiere, die Zuchtbetriebe, die gesamte Infrastruktur, die Schlachthöfe, die Weiterverarbeitung – nicht zu vergessen ein Großteil der Konsumenten. Daher glauben wir, dass dies eine (leere) Drohung bleiben wird.

Und anders herum, würde eine Verlagerung ins Ausland tatsächlich vor dem Hintergrund der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen stattfinden, wäre die Frage, ob die Branche das deswegen machen möchte, um die aktuell schlechten und für die Branche gewinnbringenden Bedingungen zu ihren Gunsten aufrechterhalten möchte. Auf dem Rücken der Beschäftigten. Das täte dem Image sicher nicht gut.

Dietmar Hölscher: Wieviel Prozent der Beschäftigten in der OWL-Fleischindustrie fallen aktuell unter Werkverträge? Wieviel Kolleginnen und Kollegen bundesweit und in OWL würden sich verbessern, wenn den Ankündigungen von Hubertus Heil (SPD) tatsächlich ein gutes Gesetz folgen würde?

Thorsten Kleile: Rund 165.000 sozialversicherte Beschäftigte im Bereich Schlachten und Fleischverarbeitung (Bund); hinzukommen geschätzt etwa 5.000 aus dem europäischen Ausland entsandte Beschäftigte.

Davon rund 30.000 in Niedersachsen, rund 38.000 in Nordrhein-Westfalen, rund 600 HH, S-H 3.700 und Meck-Pom 3.500. Nach mathematischen Verhältnissen wären die rund 30.000 ausländischen Beschäftigten (sozialversichert ca. 25.000; 14,71%) und mit ausländischen Arbeitsverträgen (=Entsendung; ca. 5.000; 2,94%) wie folgt aufzuteilen:

Der geschätzte Anteil der Entsendeten ist in den nördlichen BL deutlich geringer als in den südlichen BL. Aufgrund des insgesamt geringen Anteils ist die Ungenauigkeit über die Gesamtbeschäftigungszahlen allerdings vernachlässigbar.

Nds: ca. 5.300 (Entsendete in Nds deutlich geringerer Anteil)

NRW: rund 6.700 (Entsendete in NRW deutlich geringerer Anteil)

HH/S-H: ca. 750

HB: ca. 50

Sozialversicherungspflichtige in Schlachten und Zerlegen Fleisch und Geflügel

Bund: 33.100

Nds: 9.350

NRW: 9.250

HH/SH: 600

HB: keine Zahlen

Dietmar Hölscher: Eigentlich müssten die geplanten Regelungen nicht nur in der Fleischindustrie gelten, sondern überall dort, wo Saisonarbeiter*innen aus Osteuropa beschäftigt werden.

Welche Pläne und Forderungen der NGG gibt es für weitere Branchen?

Thorsten Kleile: Werkverträge sind dem Grunde nach etwas ganz Normales. Jeder von uns nimmt diese in Anspruch. Reparaturen an Wohnung und Haus, Elektriker etc. Die Inanspruchnahme von Werkverträgen sollte sich in einem Betrieb / Unternehmen aber auf die Fälle reduzieren, in denen es keine eigenen Beschäftigten gibt oder geben kann, da die Arbeiten z. B. zu speziell sind. So z. B. kann sich nicht jede Firma einen Dachdecker vorhalten, dafür, dass einmal in 20 Jahren ein Dach gedeckt werden muss. Oder aber, wenn spezielle Elektroarbeiten auszuführen sind, reicht manchmal der eigene Elektriker nicht aus. Dieses Prinzip muss freilich in jeder Branche gelten. Die Identität eines Betriebes darf nicht verloren gehen – sonst ist es ja kein Betrieb mehr.

Dietmar Hölscher: Der gesetzliche Mindestlohn steigt leider völlig unzureichend und ist nicht existenzsichernd. Wie sehen eure aktuellen Forderungen dazu aus?

Thorsten Kleile: Es ist erwiesen, dass der MiLo bei ungefähr 12 Euro liegen müsste, um eine (rentenfähige) Zukunft zu einem Mindestmaß abzusichern und um keine Sozialleisten als Haupteinnahmequelle in Anspruch nehmen zu müssen. In Zukunft müsste der MiLo auch weiter steigen. Hierfür kämpfen wir als Tarifvertragspartei und auch gesellschaftspolitische Größe. Zuletzt ist uns das ganz gut z. B. in der Systemgastronomie gelungen, wo wir an diese 12 Euro annähernd herankommen.

Dietmar Hölscher: Herzlichen Dank für dieses Gespräch. DIE LINKE wünscht euch alles Gute bei der Durchsetzung eurer gewerkschaftlichen Forderungen.
INFOS zur Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)

https://www.ngg.net/

Flyer der Bundestagsfraktion DIE LINKE„Leiharbeit und Werkverträge“

https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/190731_Leiharbeit_Folder_6er.pdf